Die medizinische Applikation von Genanalysen
Erfahren Sie, wie Genanalysen ihre klinische Anwendung finden und worin dabei die Vorteile liegen.
Die Zukunft der Medizin, in der jeder Mensch sein gesamtes Genom sequenzieren lassen wird, um bessere personenspezifische präventive Maßnahmen daraus schließen zu können, wird von vielen Medizinern ungeduldig erwartet. Wie weit sind wir in der Wissenschaft und was ist jetzt schon möglich?
Dass die ca. 30,000 menschlichen Gene eine Rolle in der Gesundheit spielen, ist unumstritten. Derzeit gibt es von Novogenia bereits 800 verschiedene medizinische Genanalysen. Weltweit sind es sogar mehr als 2,000 [1]. Darunter sind viele diagnostische Tests für monogene, teils sehr seltene Erkrankungen, aber auch die genetische Komponente von häufigen Volkskrankheiten wird immer deutlicher.
Genanalysen haben verschiedene Anwendungen in der Praxis. Zum einen dienen sie zur Bestätigung einer Verdachtsdiagnose (wie z. B. im Fall der Mukoviszidose – CFTR Gen [6]) oder zur Risikoabschätzung von Verwandten ersten Grades (Mammakarzinom – BRCA1 & BRCA2 Gen [7]).
Während manche genetischen Befunde ein absolutes Schicksal für die Gesundheit des Patienten darstellen, erhöhen andere lediglich das individuelle Risiko an der Krankheit zu erkranken. Da die Entwicklung vieler Erkrankungen von einem Zusammenspiel zwischen den Genen und der Umwelt/dem Lebensstil abhängt, ergeben sich hier neuartige Möglichkeiten auch in der Prävention.
„Wenn wir noch vor den ersten Symptomen von unserer genetischen Veranlagung zu bestimmten Krankheiten wissen, können wir unsere Umwelt, also unseren Lebensstil so anpassen, dass wir bestimmte Risikofaktoren meiden und so die Entwicklung der Erkrankung möglicherweise verhindern können,“
meint Dr. Daniel Wallerstorfer, CEO von Novogenia. Gut erforschte Beispiele gibt es mittlerweile viele.
Die familiäre Hämochromatose oder Eisenspeicherkrankheit wird zum Beispiel hauptsächlich durch Defekte im HFE Gen ausgelöst [8]. Männer, die Defekte in beiden Genen dieses Typs tragen, leiden zu 75 bis 96% an Eisenüberladung (erhöhte Transferrin-Sättigung und Serum Ferritin) und bis zu 50% an anderen Symptomen bis hin zur klinisch manifesten Hämochromatose [3, 4]. Trotz seiner Häufigkeit wird die Erkrankung in 67% der Fälle fehldiagnostiziert und nicht richtig behandelt [5], was zu einer Reihe von Folgeerkrankungen wie Gelenkskrankheiten, Infektanfälligkeit, Diabetes Mellitus und Leberzhirrose führen kann [9-12].
Derzeit werden Genanalysen hauptsächlich zur Bestätigung einer Diagnose und zur Risikoabschätzung von nahen Verwandten verwendet, obwohl es gerade bei dieser Erkrankung großes Potential in der Prävention von asymptomatischen Mutations-Trägern gibt. Genau wie bei der üblichen Behandlung von Hämochromatose (Aderlass-Therapie) kann im präsymptomatischen Stadium durch regelmäßiges Blutspenden der Eisengehalt im Körper gesenkt und im Normalbereich gehalten werden. Die Entwicklung von Folgekrankheiten ist bei derartiger Vorsorge und ärztlicher Überwachung nahezu ausgeschlossen [13, 14].
„Es gibt also für Betroffene dieser Gendefekte einen deutlichen Nutzen, von ihrem Risiko zu wissen“, so Dr. Wallerstorfer. „Nur leider wissen bis heute nur sehr wenige über ihr Risiko bescheid.“
Gentest statt Anamnese?
Obwohl eine Anamnese bei genetischen Erkrankungen mit hoher Penetranz und dominantem Erbgang eine ähnliche Aussagekraft wie eine Genanalyse erreichen kann, stößt sie in den meisten Fällen sehr rasch an ihre Grenzen.
So ist zum Beispiel im Fall von Chorea Huntington ein dominanter Gendefekt, der in jedem Individuum zu einer Erkrankung führt (sog. vollständige Penetranz) leicht durch eine Anamnese durch den Familienstammbaum zu verfolgen [15]. Bekommt ein Träger dieses Gendefekts ein Kind, wird er die Veranlagung zu 50% weitergeben. Eine Anamnese kann hier nur noch Vermutungen anstellen und die Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung auf 50% schätzen. Nur eine Genanalyse kann hier absolute Klarheit schaffen und feststellen, ob der Gendefekt weitervererbt wurde und ob es zur Erkrankung kommen wird.
Bei Erkrankungen mit unvollständiger Penetranz (nicht jeder Träger der Mutation entwickelt die Krankheit), wie der familiären Thrombophilie, wird es noch schwieriger, mit Anamnesen zu arbeiten. Diese Gendefekte sind relativ häufig und in etwa 20-40% der Thrombosefälle anzufinden. Etwa jeder zwanzigste Europäer ist genetisch zur Thrombophilie veranlagt und einem 8-fachen Thromboserisiko ausgesetzt [16-18]. Das bedeutet, dass Betroffene unbehandelt in etwa 10% der Fälle in ihrem Leben eine potentiell tödliche Thrombose entwickeln werden [19]. Da diese Gendefekte nicht in jedem Individuum auch zu einer Erkrankung führen und jeweils immer nur zu 50% an die nächste Generation weitergegeben werden, sind sie durch eine Anamnese schwer zu verfolgen oder überhaupt erst zu entdecken.
Erkrankungen wie die Hämochromatose oder Laktoseintoleranz werden rezessiv vererbt, was bedeutet, dass eine Person einen Gendefekt von jedem Elternteil geerbt haben muss, damit es zur Erkrankung kommen kann. Träger von nur einem Gendefekt entwickeln keine Symptome und wissen ohne Genanalyse auch nicht, dass sie Träger der Veranlagung sind. Deswegen ist in diesen Fällen eine Anamnese nutzlos, da die Erkrankungsfälle vereinzelt auftreten, ohne dass Familienmitglieder davon betroffen sind.
Beispiele aus der Praxis
Die Aussagekraft von Genanalysen variiert oft von Krankheitsbild zu Krankheitsbild, von Gen zu Gen und sogar von Mutation zu Mutation. Außerdem liefern derartige Genanalysen unterschiedliche Informationen und Möglichkeiten zur Prävention. Hier sind einige Beispiele von bereits gut erforschten genetischen Veranlagungen und Präventionsmöglichkeiten.
Laktoseintoleranz
Das Vorhandensein von zwei Gendefekten mit Einfluss auf das LCT Gen sagt mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit (>90%) die Entwicklung von Laktoseintoleranz im Laufe des Lebens voraus [20-22]. Das Alter, in dem die Intoleranz die ersten Symptome entwickelt, ist jedoch sehr variabel und vom allgemeinen gesundheitlichen Zustand der Person abhängig. Während ein Laktose-Toleranz-Test (Wasserstofftest oder Wasserstoff-Atem-Test) eine Momentaufnahme des gesundheitlichen Zustandes darstellt, kann er keine Aussagen über die gesundheitliche Zukunft des Patienten machen. Ein positiver Genanalyse-Befund kann hingegen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit eine Intoleranz in der Zukunft voraussagen. Eine Reduktion von Laktose in der Nahrung und das Achten auf Symptome kann Betroffenen die üblichen jahrelangen Verdauungsbeschwerden ungeklärter Ursache ersparen.
Familiäre Thrombophilie
Durch einen einzelnen Gendefekt (Faktor-V-Leiden) erhöht sich das Thromboserisiko auf das 8-fache und führt bei 10% der Betroffenen im Laufe des Lebens zu einer Thrombose. Liegen zwei Gendefekte vor, erhöht sich das Risiko etwa auf das 80-fache und führt unbehandelt im Laufe des Lebens beinahe ausnahmslos zur Entwicklung der Krankheit. Studien zufolge sind an etwa 40% der Thrombosefälle derartige Gendefekte beteiligt [6-19]. Zur Prophylaxe stehen Lebensstil-Veränderungen und medikamentöse Therapien (besonders in Risikosituationen wie langen Flügen oder nach Operationen) zur Verfügung, die diese genetische Veranlagung wieder normalisieren können.
Für Frauen stellen diese genetischen Dispositionen eine besondere Gefahr dar. Die Verwendung von hormoneller Verhütung oder Hormonpräparaten verdoppeln das individuelle Thromboserisiko auch ohne Gendefekt. Kommt dann eine meist unbekannte Veranlagung zur Thrombophilie hinzu, steigt das Erkrankungsrisiko exponentiell auf das 18-Fache [23, 24]. Deshalb ist auch allgemein anerkannt, dass Frauen mit einer genetischen Disposition auf alternative nicht-hormonelle Verhütungsmittel umsteigen sollten. Das Problem ist nur, dass kaum eine betroffene Frau weiß, dass in ihren Genen dieses Risiko schlummert. Noch ernster wird es für Frauen während der Schwangerschaft. Das ohnehin 4-fach erhöhte Thromboserisiko steigt durch einen Gendefekt auf das 60-fache an, ein Zustand der unbedingt mit niedermolekularem Heparin behandelt werden sollte [25, 26].
Familiäre Hypercholesterinämie
Ein Gendefekt im APOB Gen erhöht die Wahrscheinlichkeit einer Hypercholesterinämie um das 78-fache, manche Defekte im LDLR Gen sogar um das 1233-fache [27-29]. Diese Formen der Hypercholesterinämie sind von erworbenen Cholesterinämien oft nicht zu unterscheiden, bedürfen aber ggf. einer anderen Behandlung und Beobachtung.
Osteoporose
Etwa jede dritte Frau trägt einen Gendefekt, der ihr Osteoporoserisiko um 26% erhöht. Eine von 33 Frauen trägt zwei Gendefekte, die zusammen das Risiko um 178% erhöhen [30]. Knochenmasse zu erhalten ist dabei viel einfacher als verlorene Knochenmasse wieder aufzubauen, also ist eine möglichst frühe Identifizierung von genetisch veranlagten Personen wichtig, um rechtzeitig in den Verlauf der Erkrankung einzugreifen. Wird das Risiko frühzeitig erkannt, lassen sich die entsprechenden Knochenpartien noch in jungen Jahren stärken und der Abbau der Knochen durch eine besonders Kalzium- und Vitamin-D-reiche und phosphatarme Ernährung verlangsamen [31-34].
Glutenintoleranz / Zöliakie
Diese Autoimmunerkrankung wird unter anderem durch bestimmte HLA-Typen ausgelöst, die für eine Erkrankung zwar erforderlich, aber noch nicht prädiktiv sind. Ein negativer Befund für die Risiko-HLA-Typen schließt also die Möglichkeit einer Zöliakie mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit aus. Da diese Erkrankung im Durchschnitt 11 Jahre lang fehldiagnostiziert wird und Schätzungen zufolge in 12% der unbehandelten Fälle tödliche Konsequenzen hat, ist eine Identifikation der Risikopersonen besonders wichtig [35-37]. Treten anschließend Symptome auf, können diese schnell zugeordnet und durch weitere laborchemische Tests bestätigt werden. Die gesundheitlichen Risiken wie Laktoseintoleranz, ein 9-faches HNO Tumor-Risiko und ein bis zu 80-faches Lymphom-Risiko werden durch eine ausreichende Behandlung und glutenfreie Ernährung wieder normalisiert [35-37].
Referenzen:
- Celiac disease and non-celiac gluten sensitivity
- Complications of coeliac disease: are all patients at risk?
- Delayed diagnosis of coeliac disease increases cancer risk
- Association of celiac disease and intestinal lymphomas and other cancers.
Makula-Degeneration
Ein häufiger Gendefekt im CFH Gen erhöht das Risiko an der Makula-Degeneration zu erkranken, abhängig von der Anzahl an Gendefekten, um das 4 bis 12-fache. Durch eine Einstufung in Risikogruppen (1-fach/4-fach/12-fach) lässt sich das individuelle Risiko besser bestimmen [38, 39]. Hochrisikopatienten werden eine Ernährung besonders reich an Antioxidantien, die Verwendung von UV-Schutz Sonnenbrillen, die Verwendung eines Heim-Tests zum Erkennen von Sichtfeld-Verzerrungen und regelmäßige ärztliche Kontrollen empfohlen [40-45].
Nutritional Genomics
Obst ist gesund und fettiges Fleisch ist ungesund. Solche Ernährungsgrundsätze sind allgemein bekannt und eine bewusste Ernährung ist auch jedem zu raten. Diese Regeln wurden jedoch mit dem Gedanken zusammengestellt, dass sie für die Allgemeinheit gelten sollen. Individuelle Veranlagungen bleiben dabei allerdings unberücksichtigt.
So sind Milchprodukte zum Beispiel eine empfehlenswerte Quelle von Kalzium. Eine überdurchschnittlich kalziumreiche Ernährung spielt vor allem für Personen, die zum Knochenschwund (Osteoporose) genetisch veranlagt sind, eine essenzielle Rolle. Also sind Milchprodukte sehr zu empfehlen, es sei denn, diese Person gehört zu den 20% der Bevölkerung, die aufgrund eines vererbten Gendefekts Laktose (Milchzucker) nicht vertragen [21]. In diesem Fall ist von laktosehaltigen Milchprodukten gänzlich abzuraten und auf andere Kalziumquellen wie Brokkoli oder Nahrungsergänzungsmittel umzusteigen. Auch genetische Veranlagungen zu erhöhtem Cholesterin oder Triglyceriden (Arteriosklerose), Diabetes Mellitus Typ 2 (Zuckerkrankheit), Glutenintoleranz (Zöliakie), die Eisenspeicherkrankheit (Hämochromatose) oder die Makula-Degeneration erfordern spezifische Veränderungen in der Ernährung um optimal gegen diese Krankheiten vorzusorgen. Durch Genanalysen lassen sich bestimmte Nahrungsmittel-Kategorien als besonders wichtig oder nicht empfehlenswert einstufen, um genetischen Veranlagungen bestmöglich entgegenzuwirken.
Literaturverweis
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