Interview im Anschluss an den Auftritt von Dr. Daniel Wallerstorfer im SWR „NACHTCAFE“ zum Thema: „Du bist, was du Isst“ (18.11.2016)
Herr Dr. Wallerstorfer, in der Sendung haben Sie über den Fachbereich der Nutrigenetik gesprochen. Was kann man darunter verstehen?
„Nutrigenetik ist die Lehre, wie Gene mit bestimmten Lebensmittelbestandteilen interagieren. Jeder Mensch ist aufgrund seiner Gene einzigartig und reagiert auch unterschiedlich auf bestimmte Lebensmittel. Dieser junge Forschungsbereich nennt sich Nutrigenetik und verspricht die Möglichkeit anhand der Gene ablesen zu können, welche Lebensmittel vertragen werden und welche nicht.“
In der Sendung wurde die Nutrigenetik als Ding der Zukunft dargestellt. Wie wird es in der Zukunft aussehen?
„Hier muss ich leider vorab etwas von der Magie zerstören. Es klingt wie Science-Fiction und Technologien der Zukunft, aber die Nutrigenetik ist schon allgegenwärtig und Teil unseres alltäglichen Lebens. Schon in den 1960ern begann man in Deutschland jedes Baby gleich nach der Geburt nutrigenetisch zu analysieren. Und zwar auf die Krankheit Phenylketonurie. Das ist eine angeborene genetische Krankheit, bei der durch einen Gendefekt ein bestimmter Lebensmittelbestandteil (die Aminosäure Phenylalanin) nicht abgebaut werden kann. Wird die Krankheit nicht richtig erkannt und die Ernährung entsprechend angepasst, kommt es zu körperlicher und geistiger Behinderung. Deshalb testet man seit 50 Jahren jedes Baby auf diese Krankheit, um sofort einzugreifen.
Es wurde auch über die Laktoseintoleranz gesprochen. Das ist eine genetische Erkrankung. Wer sich aufgrund von Symptomen laktosefrei ernährt, ernährt sich nach seinen Genen. Das sind in Deutschland immerhin 18 Millionen Menschen.
Auch die Glutenintoleranz ist eine genetische Erkrankung. Sie kann nur auftreten, wenn ein Mensch bestimmte Gene in sich trägt. Hat man diese nicht, ist die Wahrscheinlichkeit die Glutenintoleranz zu entwickeln nahe null.
Nutrigenetische Ernährung, also Ernährung nach der individuellen Genetik ist schon lange Teil unseres Lebens und keine Zukunftsmusik.“
Tragen Sie die Gene für die Glutenintoleranz?
„Nein, also werde ich auch im Laufe meines Lebens nicht daran erkranken. Ich bin auch ein asymptomatischer Träger für die Laktoseintoleranz. Ich werde also mein Leben lang Milch trinken können, aber meine Kinder könnten die Erkrankung von mir erben.“
Sie haben in der Sendung erzählt, dass Sie sich selbst schon getestet haben. Was haben Sie dadurch für Informationen erhalten?
„Eine ganze Menge. Zum einen weiß ich, dass meine Phase 1 Entgiftungsenzyme nicht richtig funktionieren. Diese Gene sind für die Entgiftung von allem was verbrannt ist zuständig – also von krebserregenden Stoffen. Würde ich rauchen (was ich nicht tue) hätte ich ein 3,4 mal höheres Lungenkrebsrisiko als manch andere Menschen.
Auch meine Phase zwei Entgiftungsgene funktionieren nicht richtig. Diese sind für die Entgiftung von Schwermetallen wie Cadmium, Blei und Quecksilber aber auch von Herbiziden und Pestiziden, also alles was man auf Nahrungspflanzen sprüht, um Schädlinge fernzuhalten, zuständig. Das bedeutet ich sollte zum einen schwermetallbelastete Lebensmittel wie großen Meeresfisch und Muscheln reduzieren und mich reich an verschiedenen schwermetallbindenden Mineralien wie Kalzium, Zink und Selen ernähren. Da mein Körper Unkraut und Insektenmittel nicht richtig entgiften kann, sollte ich auf BIO-Lebensmittel achten.
Ich habe genetisch bedingt schlechte Cholesterinwerte. Normalerweise würde man Omega-3 (Fischöl) Kapseln empfehlen, aber das hat bei mir aufgrund meiner Genetik den gegenteiligen Effekt. Es würde meine Cholesterinwerte verschlechtern. Ich nehme stattdessen Phytosterole ein. Wie ich in der Sendung schon erwähnt habe, habe ich auch ein 3,2 -faches Alzheimerrisiko aufgrund meiner Genetik. Neben anderen Vorsorgemaßnahmen kann man hier auch in der Ernährung einiges bewirken. Studien haben gezeigt, dass Lebensmittel reich an Antioxidantien die Wahrscheinlichkeit des Auftretens der Erkrankung deutlich reduzieren. Vor allem 2-5 Tassen Kaffee pro Tag reduzieren das Risiko um rund 60 %.“
Kaffee hat aber auch Kehrseiten?
„Richtig, denn Kaffee ist ein schönes Beispiel von einem Lebensmittel auf das Menschen sehr unterschiedlich reagieren. Zum einen ist Kaffee eines der gesündesten Lebensmittel das wir kennen. Kein anderes Lebensmittel hat eine so hohe Konzentration von Antioxidantien und anderen gesunden Stoffen. Allerdings enthält Kaffee auch potenziell schädliches Koffein. Koffein hat das Potenzial diverse Krankheitsrisiken wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Osteoporose zu erhöhen. Menschen haben ein spezifisches Gen, das CYP1A2 Gen, welches die Aufgabe hat, Koffein zu erkennen und abzubauen. Von den Deutschen haben etwa 52% funktionierende Versionen dieses Gens und können das schädliche Koffein somit rasch abbauen. Aus Studien an Frauen, die 2-5 Tassen Kaffee pro Tag trinken wissen wir zum Beispiel, dass bei ihnen Brustkrebs im Durchschnitt sieben Jahre später auftritt, als bei Frauen die keinen Kaffee trinken. Kaffee hat hier also einen deutlichen Schutzfaktor gegen die Entstehung von Brustkrebs. Aber dieser Effekt war nur sichtbar bei Frauen, die funktionierende Versionen von dem koffeinabbauenden Gen haben. Wenn dieses Gen nicht richtig funktioniert hat, war trotz Kaffeekonsum die Entstehung von Brustkrebs normal. Die schützende Wirkung von Kaffee kann sich also nur entfalten, wenn der Körper in der Lage ist das schädliche Koffein rasch abzubauen. Nun stellt sich die Frage: sollte man einer Person das Kaffeetrinken empfehlen? Für 52% mit funktionierenden Genen ist die Antwort ein deutliches Ja. Für die 48% mit eingeschränkter Genfunktion erhöht sich dadurch das Herz-Kreislauf- und andere Erkrankungsrisiken. Also eher nein. Es gibt demzufolge keine einzelne Empfehlung die für jeden gültig ist.“
In der Sendung sprachen Sie auch über die Histaminintoleranz.
„Die Histaminintoleranz ist grundsätzlich eine Abbaustörung von Histamin. Dieser Stoff ist in vielen Lebensmitteln enthalten und unglücklicherweise dachte sich die Evolution, es wäre eine gute Idee, Histamin im Körper als einen Botenstoff für Entzündungsreaktionen zu verwenden. Unser Immunsystem verwendet also selbst produziertes Histamin, um Entzündungen auszulösen. Damit es hier zu keinen Fehlsignalen kommt, muss also das Histamin, das sich in Nahrungsmitteln befindet abgebaut werden, bevor es in den Körper aufgenommen wird. Dazu gibt es zwei besondere Schutzmechanismen. Den ersten Schutzmechanismus bietet das DAO-Gen. Es produziert ein histaminabbauendes Enzym, das in das Darminnere gespritzt wird und dort einen Großteil des Histamins unschädlich macht. Kommt das Histamin dennoch in den Körper, gibt es das HNMT-Gen, das Histamin dort erkennt und abbaut. Wir wissen bereits, dass bestimmte Genvariationen oder Gendefekte im DAO-Gen entweder zu einer sehr niedrigen Produktion dieses Enzyms oder zu der Produktion von defekten Enzymen führen können. Wir wissen heute, dass etwa 50% der histaminintoleranten Menschen niedrige DAO-Spiegel haben. Solche Genvariationen stellen also einen deutlichen Risikofaktor dar, aber die Genetik ist hier nicht der einzige Faktor. Unser Labor forscht selbst ob eventuell Genvariationen im zweiten Gen (HNMT) ebenfalls Histaminintoleranz-Symptome auslösen können.“
In der Sendung meinte ein Gast, dass er sich nicht genetisch testen lassen würde.
„Da muss ich ihn leider enttäuschen. Seine erste nutrigenetische Analyse für die Erkrankung PKU hatte er schon kurz nach seiner Geburt hinter sich. Auch seine Kinder werden nutrigenetisch getestet werden, ohne dass er nach Erlaubnis gefragt wird. Das ist schon seit Jahrzehnten Standardprocedere und hilft dabei, körperliche und geistige Behinderungen durch angepasste Ernährung zu verhindern. Jeder in der Runde der Gäste, bis auf Herrn Schuhbeck, hatte kurz nach seiner Geburt schon die erste nutrigenetische Analyse hinter sich.
Den meisten Kritikern ist nicht bewusst, was alles tatsächlich nutrigenetische Ernährung ist. Sie denken es ist eine umfangreiche Genanalyse die extrem detaillierte Informationen über bestimmte Nährstoffe liefert, die wir in 20 Jahren vielleicht an uns durchführen können. Ihnen ist nicht bewusst, dass die häufigsten Nahrungsmittelunverträglichkeiten wie Laktose- oder Glutenintoleranz genau in diese Kategorie fallen.
Die Einstellung: „Ich will das nicht wissen“ sieht man hauptsächlich bei Gesunden. Eine Person, die unwissend an der genetischen Glutenintoleranz leidet und wie die meisten betroffenen 10 Jahre ohne richtige Diagnose lebt, möchte üblicherweise so viel über die Ursache wissen wie nur möglich.“
Es wurde auch geäußert, dass es noch nicht genug Studien dazu gibt.
„Das Argument: „Es ist noch zu früh und es gibt noch nicht genug Studien“ ist schon so alt wie die Zeit, in der es tatsächlich noch gestimmt hatte. Das war etwa der Wissenstand um 1995-2000 rum. Im Jahr 2001 haben wir (und mit wir meine ich Wissenschaftler) das Human Genome Project abgeschlossen. Das bedeutet, wir haben das erste Mal den gesamten genetischen Code eines Menschen ausgelesen und öffentlich gemacht. Das öffnete die Tore für unglaublich viel Wissenschaft im Bereich der Genetik und ein vollkommen neuer Forschungsbereich, die Nutrigenetik, wurde ins Leben gerufen. Zwei Jahre später haben wir bereits die genetische Ursache für die Laktoseintoleranz entdeckt und kurz darauf folgte auch die genetische Ursache für die Glutenintoleranz.
Heute wird das Fach der Nutrigenetik in jeder bedeutenden Universität (Harvard, Toronto, California, Manchester)und auch in den großen deutschen Unis gelehrt. Die Zahl der Publikationen über Genvariationen wächst zudem exponentiell an. Heute haben wir schon über 300.000 Publikationen in unserer Datenbank, die die Effekte von häufig vorkommenden Gendefekten untersucht haben. Wir kennen bereits die medizinische Auswirkung von über 80.000 verschiedene Genvariationen und haben zum Beispiel für nur eine Genvariation im COMT-Gen bereits über 300 Studien. Nur zum Vergleich: in der medizinischen Genetik sagt man, dass wenn man 3 große Studien hat, die dasselbe untersucht und nachgewiesen haben, es als wissenschaftlich bestätigt gilt. Beim COMT-Gen haben wir über 300. Die Zeit, in der man behaupten konnte, wir hätten noch nicht genug Studien dazu ist schon lange vorbei. Wissen wir schon alles über die Genetik? Bei weitem nicht. Aber wir wissen über manches schon sehr sehr viel.“
Warum gibt es dann noch Personen, die behaupten es gäbe nicht genug Wissenschaft dazu?
„Ich denke, das hat mit der raschen Weiterentwicklung in dem Bereich zu tun. Sie müssen bedenken: Wer vor dem Jahr 2000 an der Uni war hat über diesen Bereich praktisch nichts gelernt. Wer da nicht am Ball bleibt verliert schnell den Überblick auf welchem Stand die Wissenschaft sich gerade befindet. Ich bin mir sicher, dass diesen Personen nicht bewusst ist, dass es zu manchen Genvariationen über 300 Studien gibt.“
Nutrigenetik ist also bereits Gegenwart. Was wird die Zukunft noch bringen?
„Zum einen ist heute schon viel mehr möglich als tatsächlich angewendet wird. Die umfangreichsten Nutrigenetik-Programme analysieren bereits über 50 Gene und geben sehr genaue Empfehlungen zur Ernährung. Zum einen denke ich, dass diese Anzahl an Genen, die beeinflussen wie wir auf bestimmte Lebensmittel reagieren, stetig ansteigen wird. Unsere Aussagen werden somit immer besser und genauer. Im Moment erlebt der Bereich der präventiven- und Nutrigenetik unheimliches Wachstum. Allein unser Labor (und es gibt über 1000 Labore weltweit) hat schon über 200.000 solcher Analysen durchgeführt, Tendenz steigend. Es ist natürlich nicht so, dass die Anwendung der Nutrigenetik schon jede Arztpraxis und jeden Ernährungsberater erreicht hat – aber die fortschrittlichen wenden sie bereits an.
Ich denke und hoffe, dass Versicherungen anfangen werden, die Kosten für eine Analyse und für Prävention zu übernehmen. Im Moment ist es noch eine Privatleistung, aber solche Technologien sollten jedem verfügbar gemacht werden um seine Gesundheit bestmöglich zu bewahren. Ich denke, dass wir in 20 Jahren das gesamte Genom von jedem Baby auf Staatskosten gleich nach der Geburt analysieren werden. Unser Labor kann bereits 111 verschiedene Krankheiten gleich nach der Geburt feststellen, aber da steckt noch viel mehr Potenzial dahinter. Schon zum Zeitpunkt der Geburt wird klar sein, welche Lebensmittel für die Kinder geeignet sind. Das gibt den Eltern die Möglichkeit, die Kinder dahingehend zu erziehen, denn: „Mamas Küche schmeckt immer am Besten!“